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Orgelüben

Von der Not, Notwendigkeit und (verborgenen) Freuden einer leidigen Pflicht

„Let‘s not beat around the bush“ stellt im Englischen die geflügelt charmante Aufforderung an sein Gegenüber dar, doch möglichst ohne Umschweife direkt zum Thema zu kommen. Dasselbe möchte ich hiermit tun, und der Leser mag hinter dieser ungestümen Ankündigung bereits jene Realitäten wittern, die den Pädagogen zu einem derartigen Unterfangen veranlassen. Natürlich wird ihm auch der provozierende Charakter mancher Statements ebenso wenig verborgen bleiben wie diese bewußt so von mir formuliert wurden: Organisten gelten gemeinhin als übfaul, nicht gerade übermotiviert zu harter und ausdauernd-disziplinierter Arbeit am Instrument; dies zeigt zumindest ein viertel Jahrhundert pädagogische Erfahrung in vielen europäischen Ländern und in Übersee. Und wenn wir Organisten uns schon einmal zum Üben aufgerafft haben, geschieht das Wie des Übens leider in einer häufig sehr uneffektiven Weise.

Freilich stellt sich die tatengebärende Einsicht in die Notwendigkeit des Üben-Müssens oft erst dann ein, wenn es bereits „Fünf vor Zwölf“ geschlagen hat und die innere Ampel des Gewissens schon längst auf rot geschaltet hat. Wenn der Druck der Sachzwänge durch nahende Prüfungs- oder  Konzerttermine so stark geworden ist, dass selbst die virtuos entwickelte Fertigkeit im Ausreden-Erfinden nicht mehr weiter hilft; erst dann beginnen viele Organisten mit dem Üben im eigentlichen Sinne; nur: der Zug ist zu diesem Zeitpunkt meist längst schon abgefahren.

In der kurzen Zeit, die oft zum Üben verbleibt, sehnt sich der Spieler verständlicherweise nach handfesten und v. a. raschen Übresultaten. Freilich stellt sich jetzt um so gebieterischer die Gretchenfrage nach dem „Wie“ eines wirklich effektiven Übens. Oder sagen wir es mit den Worten des großen Franz Liszt: „Nicht auf das Üben der Technik, sondern auf die Technik des Übens kommt es an!"

Nun, es führen viele Wege nach Rom, nur bekanntlich der Mittelweg falscher Kompromisse nicht (A. Schönberg). Erkunden wir daher im Folgenden für uns einen gangbaren Weg, der wohl zum gewünschten Ziel eines respektablen und sicheren Orgelspiels führt, aber u. U. dennoch angenehmer zu beschreiten ist als manch uneffektiver und stupider Holzweg des zeitraubenden und kopflosen Einschleifens von Noten und Notenhälsen. Dazu erstellen wir einen Katalog von sieben goldenen Regeln des effektiven Orgelübens, deren löbliche Beachtung die schlimmsten Kardinalsünden bei der Arbeit am Instrument verhindern helfen sollen.

Das Fundament

Regel 1   - Das Schuhwerk des Organisten: 
Das geeignete Schuhwerk des Organisten besteht aus „passenden“, d. h. wirklich sitzenden Schuhen (leider keine Selbstverständlichkeit!), mit nicht zu hohen oder zu flachen Absätzen sowie einer dünnen Sohle (Leder- oder Gummisohle, je nach leidlichen Rutschgewohnheiten oder löblicher Platzierung des Fußsatzes „in the first place“).

Regel 2   - Die Sitzposition auf der Orgelbank: 
Die Orgelbank sollte auf eine angenehme Höhe eingestellt werden, so dass das Absatzspiel des Fußes gerade so, jedoch bequem realisierbar ist (bitte nicht bequemer!). Die Rumpfposition kommt auf der vorderen Hälfte der Orgelbank eingenommen zu stehen, damit ein flexibler fester Angelpunkt für eine radiale Drehbewegung der Beine beim Erreichen der extremen Bass- und Diskantlage des Pedals ohne vermeidbaren Bewegungsaufwand (Verrutschen) des ganzen Körpers gewährleistet ist.

Regel 3   -   Die Körperhaltung des Spielers: 
Noch vor dem Aufschlagen der Noten empfiehlt es sich, die Wirbelsäule „militärisch“ gerade aufzurichten, damit nicht am Ende - wie bei so manchem Kollegen - die orthopädischen Spätfolgen oder der sprichwörtliche „Organistenbuckel“ als Konsequenzen einer ungesunden Körperhaltung alle Übfreuden zunichte machen.

Der Lernvorgang

Regel 4   - Die erste Begegnung mit dem Notentext: 
Die erste Annäherung an das neu zu erarbeitende Orgelstück sollte durch das einmalige (!), jedoch stark verlangsamte Prima-vista-Spiel des Notentexts geschehen. Dies entspricht gewissermaßen einer ersten Weitwinkelperspektive auf die architektonische Grobstruktur in der Zeitlupe. Der Spieler wirft sozusagen den ersten Blick auf den Bauplan eines neuen Haus, das er zu bauen und demnächst zu beziehen gedenkt.

Regel 5   - Finger- und Fußsätze: 
Erfindung und schriftliche Fixierung optimaler „schlauer“ Finger- und Fußsätze für das ganze Werk. Bei großen und komplexeren Stücken kann dies zunächst auch für sinnvoll ausgewählte Teilpassagen geschehen. 

Regel 6   - Der Übvorgang: 
Es empfiehlt sich, kleingliedrige Abschnitte in leiser Registrierung mehrfach in Zeitlupen-Tempo zu studieren. Die strikte Beachtung des einmal verbindlich fixierten Finger- und Pedalsatzes ist dabei eine unerlässliche Bedingung für den Erfolg. Es ist darauf zu achten, dass analoge Parallelstellen im Text auch konsequent mit möglichst identischen Finger- und Fußsätzen bezeichnet werden. 

Regel 7   - Das Endziel: Auswendigspiel und Gedächtnisschulung:
Es empfiehlt sich gleichfalls, so früh wie möglich einzelne Übbausteine und später sukzessive größere Einheiten am Instrument auswendig zu memorieren, um das taktile und auditive Gedächtnis von Anfang an zu trainieren. Logische und analoge Finger- bzw. Fußsätze sind hierfür die wichtigste Basis, besonders im Bereich der motorischen Gedächtnisstütze.

Freilich mögen – und sollen – die unter Regel 1 bis 7 vorstehend formulierten Grundsätze leicht wie eine stechende „Dornenkrone“ auf dem Haupt des organistischen Ego erscheinen. Und gewiss ist es peinlich, hier mitunter die mehr oder weniger bewussten Sünden eigener alltäglicher Üb- und Spielpraxis am Pranger zu entdecken; aber unterziehen wir uns dennoch den läuternden Reinigungen dieses virtuellen Fegefeuers, das wir nun einmal angezündet haben, und betrachten im Folgenden jeden der benannten Punkte noch einmal im Einzelnen und genauer.

  • Regel 1 - Das Schuhwerk

    Zu Regel 1
    Nachlässiges Schuhwerk verleitet zu nachlässiger Pedaltechnik! Dazu wirkt sich eine schlampige Pedaltechnik im Sinne der Kettenreaktion erfahrungsgemäß rasch sehr negativ auch auf das Manualspiel aus und beeinträchtigt  generell ein gut balanciertes Spiel der Gliedmaßen. Es geht dem guten Organisten hierbei nicht anders als ehrgeizigen Sportlern; und in der Tat beinhaltet gekonntes Orgelspiel, weit mehr als es bei den allermeisten Musikinstrumenten sonst der Fall ist, einen dezidiert „sportlichen Ansatz“ mit Blick auf ein ausgesprochen virtuoses Ziel.

  • Regel 2 - Balance

    Zu Regel 2
    Das völlig entspannte Gleichgewicht in Zusammenspiel der Gliedmaßen ist unabdingbare Voraussetzung für eine gut ausbalancierte Koordination von Manual- und Pedaltechnik. Die je optimale Balance verändert sich freilich von Orgel zu Orgel, alleine schon durch die Anzahl der zu bespielenden Manuale oder die unterschiedliche Tiefen-Reichweite der Klaviaturen. Der rechtwinklig abgeführte Unterarm sollte das Hauptmanual in der Horizontalen verlängern (vgl.: Höhe der Sitzbank!).

  • Regel 3: Haltung!

    Zu Regel 3
    Das Thema einer disziplinierten und gleichzeitig physiologisch vernünftigen Körperhaltung ist beim Orgelspielen insofern von eminenter Wichtigkeit als durch das aufrechte und gerade Sitzen immer auch ein Mehr an geistiger Konzentration zu erwarten ist; ein freilich nicht gerade sekundärer Aspekt angesichts des raren Zeitfaktors.

  • Regel 4: dumpfes wiederholtes "Durchspielen"?

    Zu Regel 4

    Das immer wiederholte dumpfe „Durchspielen“ des ganzen Werks von A bis Z, um den Notentext mit der Zeit quasi gewaltsam einzuschleifen, stellt eine der stupidesten Formen der Zeitverschwendung dar (warum immer wieder auf’s Neue die unproblematischen Stellen zeitverschleißend mitüben?). Üble Angewohnheiten dieser Art erfordern eine ungleich höheren Zeiteinsatz, der übtechnisch unergiebig bleibt. Dazu verleitet unklug kalkulierter, übermäßiger Zeiteinsatz paradoxerweise oft auch zu ungenauem Spiel, indem übliche Schlampereien noch ausgiebig mit sündhaften Eigenkommentaren garniert und legitimiert werden.

  • Regel 5: Schlaue Finger- und Fußsätze er-finden!

    Zu Regel 5

    Der „schlaue“ Finger- (und Fuß)satz wird sich erst finden lassen, wenn der Spieler gewillt ist, selbst er-finder-isch zu wirken und vom Prinzip eines fortlaufenden Legatofingersatz mit dem eigenem Köpfchen abweicht. Dieser Grundsatz bildet die eigentliche Wurzel spielerischen Erfolgs und gedeiht nur auf dem Boden eines korrekten Umfelds (Regel 1-4). Konkret: Es geht hier um das Erlernen einer mühelosen weil natürlich lockeren Spieltechnik, die aus dem korrekten Finger- und Fußsatz logisch abgeleitet ist. Mit der Beherrschung dieser mühelosen Technik verspricht das Üben am Ende wahre Freuden. In diesem Kontext wären sicher auch das „unverriegelte“, also flexible und locker geführte Handgelenk und eine gleichfalls gelockerte Beinmuskulatur als wichtige Faktoren einer eleganten Technik anzusprechen. Es sollte zudem stets auch darauf geachtet werden, dass sich die Knie beim Spielen nicht berühren.
    Der Fingersatz ist organisch sinnvoll, d. h. logisch aus der Artikulation einer Phrase zu entwickeln und mit dieser strukturell zu koppeln. Somit gilt, dass Artikulation und Applikatur zwei Seiten ein und derselben Medaille in einem komplementären Einheitsgefüge bilden. Unaufgelöste (konträre) Körperspannungen jeglicher Art, im Mikrobereich des Fingerspiels ebenso wie Makrobereich der Körperhaltung, führen zu disfunktionalen Störungen und sind deshalb nach Kräften zu vermeiden. Dies betrifft insbesondere auch das leider viel zu beliebte Unter- und Übersetzen, das man getrost auf den kleinstmöglichen Prozentsatz, mit einem klug überlegten Fingertausch und "schlauen" Zahlen über den Noten, reduzieren sollte. Zu vermeiden wären auf unserem möglichst bequemen „Weg nach Rom" auch alle Terzgrätschen der Fingergruppen 4-5 und 3-4; sie bieten eher das traurige Bild einer Art von Finger-Polio und bedingen eine unzuverlässige Feinmotorik mit nachweislich enormer Fehlerquote (peinlich, unnötig und destruktiv schon im Vorfeld des Übens, wenn vom Konzertvortrag noch lange nicht die Rede ist).

    Der Fußsatz verlangt freilich ebenso nach einer „schlauen“ Applikatur und bedarf vorab der Beherzigung einer fundamentalen Regel in unserem Katechismus des löblichen Orgelübens: „Spiele nie mehr als drei Töne mit gleichem Fuß!“ Die Dreizahl  stellt hier schon den  Grenzfall der gerade noch „lässlichen“ Sünde dar. Zuverlässiger funktionieren: „2 Tasten pro Fuß“ für das  präzise Pedalspiel; zunächst einmal ganz abgesehen vom streng alterierenden Fußsatz, dem klassischen Idealfall für das Pedalspiel. 

  • Regel 6: Abschnitte üben - wie unter'm Mikroskop

    Zu Regel 6

    Das Einteilen einer unbekannten Partitur in überschaubare Übabschnitte soll zuerst der kritischen Überprüfung der korrekten Fingersätze und „schlauen Zahlen“ über den Noten dienen, erst dann der Aneignung harmonischer, rhythmischer und melodischer Strukturen sowie dem speziellen Techniktraining, bis hin zur höchsten Zielebene einer optimalen und rationellen Gedächtnisverarbeitung: dem Auswendigspiel. Alle strukturellen Ebenen, bzw. deren Bewältigung, komplimentieren sich im Gewebe des zu erarbeitenden Stücks und ermöglichen letztlich das sichere auswendige Spiel eines Werkes.

    Zugegeben: Das konsequente und intensive Studieren „unter dem Mikroskop“ erscheint zunächst langwierig und mühevoll, führt mittel- und langfristig jedoch zu einer respektablen Geschwindigkeit und Sicherheit auch bei der Erarbeiten komplexerer Literatur. Ein scheinbar lässiges Durchlesen mit gelegentlichem „Stolpern über Stock und Stein“ verbindet sich dann automatisch mit einem souveränen Lächeln, das um den gesicherten Lernerfolg im Voraus weiß und die Scheu vor der schwierigen Materie und mancher technischer Klippe abgeschüttelt hat. Eine ineinandergreifende und aufeinander aufbauende, detailbewusste („schlaue“) Bausteinarbeit mit kleinen musikalischen Einheiten, bei vollkommener technischer Entkrampfung (Fingersatz ohne Spannungskonflikte!), erleichtert das Erarbeiten jeder Literatur und wird am Ende gar zu einer Art erholsamem „Keyboardsport“. Um diesen Erfolg nicht zu behindern, sollte jedes klebrige Dauerlegato im Schneckengang vermieden werden, das weder der Orgelmusik noch dem Instrument in den meisten Fällen angemessen ist.

    Viele Organisten mögen sich angesichts derartiger Erkenntnisse nun allerdings fragen: Wieso konnte und durfte ich dies alles nicht schon längst? Und wer die oben erwähnten Grundregeln strikt befolgt, wird freilich ganz von allein zu dem Selbstvorwurf genötigt sein: Hätte ich das permanente Legatospiel samt halsbrecherischem Legatofingersatz nur damals schon durchbrochen und aufgelockert und natürliche Fingersatzlösungen gefunden wie etwa den „springenden Daumen bzw. fünften Finger“ (durch ein gelockertes Handgelenk zielsicher geführt), oder hilfreiche Glissandotechniken eingesetzt bzw. Parallelverschiebung der Hände und Füsse, anstatt des doktrinären Gebrauchs eines im Wortsinne un-organ-ischen Über- bzw. Untersetzens.
    Somit wäre unser Ziel klar umrissen als das unverkrampfte Arbeiten am und mit dem Instrument, ein Üben also, das rundum Spaß machen kann. Statt uns mit einem Katalog gouvernantenhafter Verbote zu plagen haben wir pragmatisch sinnvolle Regeln des „professionellen Mogelns“ gefunden, die uns nun legitimerweise zu rasch vorzeigbaren Resultaten verhelfen können. Ausgenommen von dieser neu erworbenen Freiheit bleibt einzig das Kardinalgebot des „schlauen Fingersatzes“, ohne dessen kompromisslose Beherzigung auch das virtuoseste „Mogeln“ nicht zum Ziel führen würde. Fazit: „Lassen wir den Klebstoff beim Orgelüben zuhause!“

  • Regel 7: Auswendig lernen

    Zu Regel 7

    Das sichere, souveräne Auswendigspiel eines Werks ist das Endziel eines tüchtigen Organisten. Wohlgemerkt: Das Auswendiglernen und -spielen soll hierbei keineswegs als ein separater Vorgang verstanden werden; es sollte sich vielmehr als letzte Konsequenz aus dem zuvor Gesagten automatisch (zumindest zu einem entscheidenden Prozentsatz) ganz von selbst nahelegen. Hier kann im polyphonen Notentext insbesondere auch das laute Mitsingen der Innenstimmen beim Üben zusätzlich eine wirksame gedächtnisbildende Stütze sein. Dies wird jede Spielerin und jeder Spieler für sich selbst einmal austesten und entscheiden müssen.

Regel 8 - Die "Meta-Regel"

Zuletzt wäre als übergeordnete Metaregel, gleichsam als Regel 8 der feste Glaube an die Effektivität der Regeln 1 bis 7 zu nennen, damit der Organist dem eigenen Spiel entspannt zuhören kann. Das aufmerksam-entspannte Sich-selbst-zuhören-Können bietet nicht weniger als den Gegen- und  Selbstbeweis dafür dar, dass ein vertieftes Beherrschen und Verstanden-Haben des Notentexts die Tür vom Üben zum Interpretieren aufgestoßen hat. Jetzt kann auf der Orgel ihr farbenreicher Klangkosmos durch die Kunst des Registrierens entdeckt und erschlossen werden.

Das Ziel eines künstlerischen Orgelspiels ist erreicht, wenn der Spieler zu optimaler Transparenz - selbst und erst recht in großer Akustik - sowie größter Eleganz im Umgang mit der musikalischen Architektur der Stücke gelangt ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen in einer raffiniert-ausgeklügelten, „schlauen“ Technik und einer soliden Übkonsequenz. Der subjektive Gewinn für den Übenden selbst besteht in nicht weniger als dem sich wohltuend und dauerhaft einstellenden Erfolg.