Damit Sie unsere Internetseite optimal nutzen können, setzen wir nur technisch notwendige Cookies. Wir sammeln keine Daten zur statistischen Auswertung. Näheres finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Das Konzertprogramm als Komposition

Der Artikel, eine wertvolle Handreichung für Konzertorganisten, erschien in "Kirchenmusik im Bistum Trier", 1-2020. Der Trierer Orgelpunkt bedankt sich beim Autor Prof. Geffert für die Erlaubnis der Publikation!

 

 


Johannes Geffert
Das Konzertprogramm als Komposition

Was ist überhaupt ein 'Konzert' in der kirchlichen Arbeit? Von Orgelvesper über Lunchtime-Orgel, von Orgel-Andacht bis zur Orgel-Nacht und ganzen internationalen Konzertreihen gibt es viele Formate. Allen gemeinsam sind die offene Tür der Kirche und eine oft sogar übergemeindliche Werbung (Plakate, Presse). Wir hoffen also auf Besucher/innen nicht nur aus dem eigenen Sprengel. Besonders groß ist dabei die Chance, kirchenfernere Menschen zu erreichen, die im Hören der Musik, im Wahrnehmen eines großen sakralen Raumes wieder spirituelles Erleben spüren. Hoffentlich werden diese Möglichkeiten auch von den Leitungsgremien einer Gemeinde erkannt und Konzerte nicht etwa als ‘künstlerische Selbstverwirklichung’ empfunden. Die 'Öffentlichkeit' über die Kerngemeinde hinaus zu erreichen ist ein segensreicher Auftrag für Kirchenmusik - und gleichzeitig eine hohe Verpflichtung. Denn an eine öffentliche Konzert-Veranstaltung – wie auch immer man sie benennt und durchführt – sind auch entsprechende Qualitätsmaßstäbe anzulegen! 

„Die Orgel, die 'Königin der Instrumente', wird öffentlich so schlecht gespielt wie kein anderes Instrument“. Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Satz las, aber leider finde ich diese Aussage wahr. Natürlich können wir als Organisten/innen nicht die gleiche technische Perfektion haben wie Pianisten/innen, die mit einem oder zwei Programmen eine ganze Saison lang die Bühnen der Welt bespielen. Jede Orgel ist eben anders, allein die unterschiedlichen Tastenmensuren, die verschiedenen Pedalpositionen, die Klaviaturumfänge, die Bedienung der Register, das jedem Instrument anzupassende Repertoire, all das macht uns das Konzertieren schwerer. Aber ich schätze, dass der Erfolg unserer Konzerte nur zu einem Drittel in der spielerischen Potenz, aber zu einem weiteren Drittel in der guten Registrierung und im letzten Drittel auf einem stimmigen Programm beruht! Darum soll es im Folgenden gehen.

Wer zu einem Konzert einlädt, spielt nicht für sich und seine eigenen Wünsche, sondern für Menschen, die sich auf den Weg zur Veranstaltung gemacht haben, auf harten Bänken sitzen, gelegentlich frieren müssen. Diese Zuhörer/innen sollten mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass sich der Besuch gelohnt hat, noch besser: dass man wiederkommen möchte! Über die musikalische 'Bewirtung' sollten wir uns also viel Gedanken machen. Ein gutes Programm ist einer erlesenen 'Speisefolge', einem Menü vergleichbar, auch wenn im Konzert ein 'Hauptgang' am Schluss stehen darf und 'das Süße' eher ein Zwischenspiel sein wird.

Abwechslungsreich sind zunächst einmal einfache Gegensätze wie:
laut/leise – langsam/schnell - länger/kürzer - Dur/moll - alt/modern -
farbige Registerwechsel/gleichbleibender Klang - Stimmungswechsel (z.B eher heiter/eher tiefergehend) - Tonartenwechsel  ….

Nach dem gleichbleibenden Forte eines großen Bach-Präludiums wirkt die filigrane Struktur und die Kleinteiligkeit einer Pachelbel-Partita in farbiger Registrierung großartig. Nach dem Reichtum an Verzierungen wie bei de Grigny hört man sicher lieber die Geradlinigkeit eines Trios von Krebs als Böhms Choralbearbeitung ‘Vater unser’ mit seiner reichen Ornamentik.
Wie ‘erholsam’ klingen Mendelssohns Finalsätze in den Sonaten 3 und 6, weil sie an ihrem Platz jeweils einen Stimmungswechsel vollziehen. Die Folge der Tonarten und noch mehr die unterschiedlichen Formen und Affekte in Mendelssohns 1.Sonate können Beispiele sein, wie wir auch im größeren Zusammenhang eines Konzertprogrammes spannungsvolle Gegensätze, aber doch Beziehungen schaffen können. Und wie geistreich baut Bach die Folge der Werke etwa im ‘3. Teil der Clavierübung auf’.  Welche abwechslungsreiche Vielfalt schafft er trotz der strengsten Ordnung - oder vielleicht gerade auf Grund dieser Ordnung! Denn Abwechslung alleine nur um ihrer selbst willen wäre letzten Endes immer noch ein schlechtes Programm.

Eintönig im wahrsten Sinne des Wortes erscheint mir eine Folge von Kompositionen in nur einer Tonart:
Buxtehude-Passacaglia in d
Böhm-'Vater unser' in d
Bach-Triosonate III in d
Bach-d-moll Toccata
Mendelssohn Sonate 6
Guilmant-Final aus Sonate I in d

Solch eine Auswahl hat zwar mehrere ‘Gänge’, kommt mir aber vor wie das Essen immer vom selben Teller. Zwar gibt es einen guten Querbezug mit dem 'Vater unser'-Choral bei Böhm und Mendelssohn, zwar sind diese Werke durchaus von unterschiedlichem Charakter, aber wechselnde Stimmungen werden durch wechselnde Tonarten doch viel besser erfahrbar gemacht. Wie viel mehr Querbezüge und Symmetrie hätte z.B.:
Buxtehude-Toccata in d 
Guilmant-Allegro op.18,2 fis-moll mit Dur Schluß ! 
Böhm-'Vater unser'  in d
.................. ?
Mendelssohn-Sonate 6 ‘Vater unser’
Guilmant-Invocation op. 18,3 B-Dur 
Bach-Toccata in d

Die Tonartenfolge finde ich hier sehr überzeugend! Man sieht auch den ‘Architekturplan’ des Programms. Vom ursprünglichen Konzept in d-Moll ist man gar nicht so weit entfernt. Einen Schwachpunkt stellt allerdings der Übergang vom leisen Finalsatz Mendelssohns zur leisen, langsamen Invocation Guilmants dar. Ob man die beiden Sätze des Franzosen vertauscht? Und was kommt in die Mitte, gleichsam als Zentrum des Programms? Etwas Kleines wie Guilmants op.18,4 ‘Zwei Versetten und Amen’? Das wäre gut für die Querbezüge, inhaltlich passend zwischen den ‘Vater unser’-Vertonungen, aber doch zu kleinteilig und unbedeutend.
Gerade nach der Statik des Böhm (Pedalpartie!) und vor der Ruhe des Beginns bei Mendelssohn bedarf es dazwischen eines starken, lebhaften Ausdrucks, erst solcher Gegensatz würde Böhm und Mendelssohn zu bester Wirkung verhelfen und zu dem machen, was sie sind: ruhige, große, ernste Musik (selbst angesichts der virtuosen Steigerung in den Variationen des Letzteren). Also Guilmants ‘Grand Choeur op.18,1 dazwischen - oder etwas Modernes? Petr Eben ‘Amen - es werde wahr’ oder ‘Christ avec le Saint-Esprit dans la gloire du Père’ von  Naji Hakim?
Sie sehen, diese Überlegungen könnten lange weitergehen! Mich kostet das Nachdenken über die ‘Komposition’ eines Konzertprogrammes viel Zeit, etwa so viel Zeit, wie man sich wahrscheinlich für das Schreiben einer guten Predigt nimmt. Und ein Programm ist tatsächlich auch eine Botschaft, es sollte unseren Auftrag als Kirchenmusiker/innen sichtbar und hörbar machen. Zusammen mit der jeweiligen Interpretation bildet es übrigens auch unserere musikalische Persönlichkeit ab.

Das Kirchenjahr ist ein hilfreiches Geländer und unerlässlicher Ratgeber für unsere Programmauswahl! Gedankenlos finde ich, wenn ein ‘Künstler’ im Sommer als ruhiges Zwischenstück Bachs ‘Nun komm der Heiden Heiland’ spielen will. Widors 10.Sinfonie ‘Romane’ ist m.E. nicht vor Ostern vertretbar, Duprés ‘Variations sur un Noel’ oder ‘Der Kreuzweg’ auch nicht gut nach Ostern.  Sweelinks ‘Mein junges Leben hat ein End’ gehört ebenso nicht in die Advent- oder Weihnachtszeit wie Bachs Pastorale in die Zeit um Bußtag und Ewigkeitssonntag.

Es gibt immer noch genug Choralkompositionen - allein bei Bach, Buxtehude, Pachelbel, Walter, Krebs (Clavierübung!), Oley (!) und in sehr guten Sammelbänden, die man fast immer im Jahreskreis spielen kann.

Wie gut wäre jetzt noch, wenn nicht nur wir als Kirchenleute, sondern auch kirchenferne Hörer/innen den Text nachlesen könnten. Diese könnte man ggfs. auch ‘rezitieren’ lassen - also nicht laienhaft herunterlesen lassen von einem gutmeinenden Dilettanten! Oder man gewinnt für das Vor-Singen (im wahrsten Sinne des Wortes ‘vor’ dem entsprechenden Orgelwerk) sogar eine Solostimme, einen kleinen Chor.

Selbst freie Stücke können den jeweiligen liturgischen Kalender affektvoll ausdeuten. Zu 'Himmelfahrt' wäre Bachs D-Dur sehr plakativ, und Bachs oder Buxtehudes Präludien in Dur-Tonarten sind ja tatsächlich bestens für eine ‘Freudenzeit’ denkbar, eher als deren Passacaglien und Ciaconen, eher als die Meisterwerke in e-moll.

Nicht zuletzt gibt es auch die Komponistenjubiläen und lokale Bezüge, die einen auf gute Ideen bringen können.

Bei der Komposition der Programme sind wir übrigens nicht nur als Ausübende, sondern sehr oft als Veranstaltende für Gastorganisten in der Verantwortung. Wir dürfen und müssen es unseren Solisten/innen also sagen, was an ihren Programmen nicht stimmig ist, was wir gerne anders hätten!

Choralbearbeitungen in allen ‘Farben’ des Kirchenjahres gibt es in Hülle und Fülle. Eine vielleicht nur handwerklich gut komponierte Partita von Walter (also kein absolutes ‘Meisterwerk’) gewinnt ungemein durch exquisite Registrierung und Wiedergabe. Der Klangcharakter der einzelnen Registermischungen muss dabei den Affekt der Musik genau treffen. Und wenn dann noch eine wunderbare, differenzierte Artikulation hinzukommt, hat man als Interpret/in ein kleines Stück richtig groß gemacht. Kenner und Liebhaber werden es hören! Aber zu viele Choräle in einem Konzert erreichen das Gegenteil von Vielseitigkeit: kleinteilige Langeweile ohne Höhepunkte - wie ein Buffet aus lauter kleinen Canapés - wehe dem, der hungrig kam!

Aufbau und Architektur eines Programmes kann uns alle zu kreativen ‘Baumeistern’ machen. Führt uns ein erstes Werk bereits mitten hinein in das ‘Mittelschiff einer Kirche’, oder stehen wir erst einmal in der ‘Vorhalle’. Welche gewichtigen, tragenden Säulen hat ihr Programm, welche ‘schmückenden Altäre’ finden sich dazwischen. Welche Komposition wäre wie ein zentrales ‘Altarbild’, oder führen Sie die Hörenden durch einen vierseitigen Kreuzgang

Frescobaldi - Toccata per Elevatione in e
Bruhns - e-moll 
Bach - Triosonate G-Dur
Mendelssohn - Sonate III A-Dur
Willscher - aus dem ‘Vogelarium’
Elmore - Toccata Rhumba  b-moll/Dur

In diesem ziemlich ‘bunten’ Programm gibt es eine stille, fokussierende Einleitung. Bruhns, Mendelssohn und Elmore werden auf Grund ihrer kraftvollen Mehrteiligkeit und dynamischen Bandbreite als die gewichtigen Säulen wahrgenommen, während die ungleich am schwersten zu spielende Triosonate und die Vogelmeditationen einen weiten, leichten, filigranen ‘Zwischenraum’ eröffnen. Beachten Sie die Tonartenfolge.

Der folgende Programmausschnitt zentriert auf Bachs Choralvariationen wie zwei Altarflügel auf ihr Zentrum deuten:
Buxtehude - Präludium g-moll
Bach - Partita ‘O Gott’ c-moll
Mendelssohn - Präludium und Fuge G-dur

Bei folgenden Zusammenstellungen würde das noch besser deutlich:
Karg-Elert - ‘Jesu, meine Freude’ (Passacaglia aus op.65)
Reger - Consolation (Tröstung!) aus op. 65
Franck - Choral II  (=Passacaglia)

Rheinberger - Klage
Karg-Elert - ‘Jesu, meine Freude’
Reger - Consolation

Zyklische Werke und Gesamtaufführungen sind ja ein Sonderfall bei der Programm-Komposition. Zunächst gilt auch hier das Kirchenjahr für mich als Ordnungsmacht. Eine Gesamtaufführung aller Orgelwerke Bachs, bei welcher die Choräle nicht ihrer jeweiligen Festzeit zugeordnet sind, halte ich für falsch. Gerade hier lassen sich gemischte Programme aus freien Werken und Chorälen so sinnfällig kreieren und entsprechend im Jahreskreis terminieren.
Gibt es etwas Schlimmeres für Laien, als das gesamte Orgelbüchlein an einem Abend hören zu müssen? 46 Kostbarkeiten, aber alle in dichter Reihenfolge abgespult, ohne dass man als unerfahrener Konzertbesucher eine Ahnung davon hat, worum es geht? Das kann sein wie der Genuss von 46 Pralinen - man wird lange keine Einzige mehr essen!  Und man glaubt gar nicht, wie wenige ausführende Organisten/innen selbst die Texte - und damit die theologische Aussage der Choräle des Orgelbüchleins kennen!
Ebenso uninspiriert finde ich z.B. ein Konzert mit allen Bach-Toccaten. Wie einseitig und begrenzt muss sich das Instrument hier präsentieren.
Gleiches gilt für Konzerte von französischem Zuschnitt, in welchen Interpreten gerne nach Messiaen etwa noch Escaich und dann eine große Improvisation spielen. Meistens tun sie das großartig und die Fans werden begeistert sein. Aber: sind solche 30 bis 40 Minuten wirklich abwechslungsreich, bieten sie Kontraste, inneren Zusammenhalt außer dem Flair der französischen Moderne?  Auch die Reger-Abende des Jubiläumsjahres 2016 mit ihrer endlosen Aneinanderreihung  der ‘großen’ Opera fand ich eine programmatische Katastrophe, ein Armutszeugnis für unsere Zunft und eine vertane Chance, für den ‘schwierigen’ Reger mit seinen vielen schönen ‘kleinen’ Stücken beim Publikum eine Lanze zu brechen. Natürlich gibt es diese Orgelfreaks, denen kein Reger zu viel wird, wie gut, dass es sie gibt, aber die gab es schon vorher, und von den anderen Zuhörern haben wir wieder einige auf immer vergrault.

Spannend könnte aber schon sein, die drei Choräle von Franck an einem Abend zu bringen, wenn man z.B. jeweils davor die drei Choräle 'Allein Gott in der Höh' sei Ehr' aus den 'Leipziger Chorälen' von Bach spielt. Bach und Franck, evangelisch und katholisch, Barock und Romantik, theologische Ausdeutung und subjektive Kontemplation, welchen inneren Zusammenhang trotz größter Differenz kann man hier darstellen!

Die 18 ‘Leipziger Choräle’ sind kein Zyklus, sondern eine Sammlung, also auch nichts für die Aufführung an einem Abend! Wo aber im Kirchenjahr spielt man zyklische Werke?  Karg-Elerts 6 Stücke op. 106 ‘Cathedral-Windows’ mit dem weihnachtlichen Schwerpunkt könnte man unter dem Aspekt des Titels ‘Kirchenfenster’ auch schon ab Sommer programmieren. Wobei allerdings Katholiken die gregorianischen Melodien oft richtig zuordnen können, während die meisten Evangelischen nicht einmal merken, dass hier solche Vorlagen genutzt werden und was sie inhaltlich bedeuten. Wieder offenbart sich hier - wie bei den Choraltexten - ein Bildungsauftrag des Konzertes im Interesse der Kirche.

L.Mozart/J.Eberlin ‘Der Morgen und der Abend’ auf die zwölf Monate des Jahres dagegen ist als Gesamtwerk eine heiterer, leichter Programmpunkt für die Matinee am Neujahrsmorgen, aber auch für die Mitte des Jahres um den Johannistag herum.  Vivaldis ‘Jahreszeiten’ gibt es inzwischen in populären Orgelbearbeitungen. Natürlich würde man den ‘Frühling’ nicht im Spätsommer spielen! Und auch Messiaens Zyklen haben ihren unveränderbaren Platz: ‘La Nativité’ und ‘l’Ascension’.

Großwerke brauchen ihren Raum im Programm und die entsprechende Orgel. Vergleichbar wären weiträumige Ausstellungshallen, in denen großformatige Leinwände frei hängen können, aber nicht viele kleine Postkarten. Große Konzertreihen in hohen Domen vertragen eine Zusammenstellung wie:
Reger  - op. 127 
Franck - ‘Grande Piece Symphonique’

Denn Franck ist so völlig anders als Reger. Eine schlechtere Zusammenstellung wäre wegen der größeren Ähnlichkeit:
Liszt - Ad Nos
Reubke - Sonate

Das gefällt zwar allen musikwissenschaftlich gebildeten Fachleuten, aber für die spielen wir nicht. Kontrastreicher wäre z.B.
Bach - Toccata, Adagio und Fuge C-Dur
Mozart  - f-moll KV 608
Franck - ‘Grande Piece Symphonique’

Francks ruhiger fis-moll Anfang nach Mozarts f-Moll Schluss-Forte ist ein reizvoller Übergang und eröffnet stimmungsmäßig eine völlig neue Dimension. Aufsteigende Tonartenwechsel wirken übrigens offensichtlich positiver als ein ‘Abstieg’ (nomen est omen!) Und die faszinierende - und doch so unterschiedliche - Behandlung der Großform in diesen drei Werken schafft gleichzeitig Zusammengehörigkeit im Programm wie individuelle Charakteristik.

Moderne Musik müsste man eigentlich erst einmal näher definieren, ehe man darüber spricht. Auf keinem Instrument wurde seit 1945 so viel neue Musik gespielt, wie auf der Orgel. Ich erinnere mich an Internationale Orgelwochen der 60er und 70er, in welchen jeder Interpret einen halben Abend das Neueste aus seinem jeweiligen Lande spielte - und man hörte zu.....
Bei allem Respekt für diejenigen, die heute viel neue Orgelmusik komponieren und aufführen, bin ich doch eher sehr vorsichtig geworden.
An der Kölner Hochschule sagte mir unlängst ein ausländischer Student: ‘hier in Deutschland ist die neue Musik ja eher wie Philosophie. Zum Verständnis muss man erst so viel lesen’. Viele Konzertbesucher tun sich damit schwer. Deshalb programmiere ich das neue Stück, welches ich spielen, vorstellen, interpretieren will, für das ich Interesse wecken will, immer in einem Kontext besonderer Publikumswirksamkeit. Der Erfolg liegt darin, dass die ‘schöne’ Musik so viel Ausgeglichenheit und entspannte Zufriedenheit auslöst, dass das Neue nicht als störendes Ärgernis sondern als interessante Bereicherung empfunden wird und zum ‘Aufhorchen’ führt.

Bach - Toccata, Adagio und Fuge C-Dur
Henning Frederichs - Improvisationen über das Dies Irae für Pedal solo
Widor - drei Sätze aus der Sinfonie Nr 8

Hier wird ein ‘schwieriges’ Werk mit beliebten Meisterwerken ‘verpackt’, die Dreisätzigekeit aller Kompositionen schafft ein Muster und eine vergleichbare Proportion. Ebenso wäre das für eine kleine Orgel mit:
Sweelink - Ballo del granduca
Petr Eben - Momenti di organo (Auswahl)
Franck - aus der Sammlung ‘l’Organiste

Und weil diese Zusammenstellung doch sehr kleinteilig wäre, kann man vor und nach Eben einfügen.
Sweelink
Reincken - Fuge g-moll
Eben
Bach - Fuge g-moll
Franck

Nun sind Frederichs oder gar Eben gar nicht so neu! Wie wäre es mit den Etüden von Ligeti oder mit Stücken von Bengt Hambräus?
Und auch wer die wirklich gerade ganz neue Musik propagieren, spielen und fördern will, wird auf jeden Fall eine kleine – oder gar größere - Gemeinde der Interessierten um sich sammeln können, Beispiele in unserer Landeskirche gibt es! Wie überhaupt alles im Bereich Kirchenmusik, was mit Engagement, Charisma, Können und Beharrlichkeit getragen wird, Frucht trägt.

Populäre Musik hat sich auch das kirchliche Konzertpodium erobert.
Wie gut, dass die Orgel für viele damit das Flair des ‘Altmodischen’ verliert. Selbst ein Cameron Carpenter - so wenig sein Tun mit dem Wesen von Kirchenmusik zu tun hat - ist für unsere ‘Zunft’ in mancher Hinsicht gut. Wenn man einen italienischen Abend programmiert und von ein wenig (!) Frescobaldi über Vivaldi (z.B. in Bachs Bearbeitungen) über Lucchesi und Bossi auch Antonia Diana, Padre Davido di Bergamo präsentiert, ist das stimmig und sehr ‘unterhaltsam’. Jazz-verwandtes etwa von Volker Bräutigam, Johannes Michel, die Toccata ‘Rhumba’ von Robert Elmore, Andreas Willschers ‘My Beethoven’, Stücke von Barbara Dennerlein oder entsprechende Choralbearbeitungen wie z.B. aus der Sammlung ‘alio modo’ können in vielen Programmen sinnvoll und erfolgreich Platz finden. Hüten wir uns aber vor einer oberflächlichen Publikumswirksamkeit, wir haben mehr zu bieten und als Kirchenmusiker und Künstler auch einen anderen Auftrag.

Welche Orgel erlaubt welches Programm?

Dass Bach auf allen Orgeln immer noch gut klingt, weil die Musik halt so stark ist, wird allgemein anerkannt.  Es gibt aber zur Zeit eine Tendenz zur stilistisch strenger definierten Instrumenten und zu Programmen, die dem Rechnung tragen und eher musikwissenschaftlich konzipiert werden. So stimmig und ‘richtig’ das ist, führt es doch zu einer gewissen Gleichförmigkeit. So hört man an der Hofkirche in Dresden jahraus, jahrein immer die alten Franzosen und Bach. Das ist zunächst wunderbar. Als Hausorganist dort möchte man jedoch gelegentlich auch etwas anderes spielen. Es ist Raffinesse und Intelligenz nötig, um hier spieltechnische Lösungen zu finden, die andere Bereiche des Repertoires möglich machen, aber das kann dann sehr reizvoll sein!
Als Kirchenmusiker/innen spielen wir jedoch in der Regel auf Instrumenten ohne besondere stilistische Ausrichtung. Manche Musiker bedauern das, doch für die Vielseitigkeit des möglichen Repertoires ist das sehr gut. Die Wirkung unserer Programme hängt nun entscheidend von der Kunst ab, wie wir die jeweiligen Instrumente ‘in Szene’ setzen!

Hilfreich sind folgende Überlegungen: Die einzelnen Werke sollten klanglich oft und abwechslungsreich präsentiert werden. Bei Variationen also möglichst immer die Manuale wechseln. Das Plenum jeder Komposition kann anders klingen, bei Buxtehude wenig Grundstimmen, mehr Oberton, bei Bach schon mehr Gravität, bei Mendelssohn nicht schwer oder dick, bei Widor nur wenig (keine?) deutsche Mixturen, bei Reger  -  alles (?).  Und wenn man schon zwei Präludien mit Fuge hintereinander spielen will, dann müssen sie wenigsten sehr unterschiedlich klingen.

Je größer die dynamische Bandbreite, desto eindrucksvoller die Wirkung. Jedes Konzert sollte ein paar ganz, ganz leise Stellen und nicht zu viele Tuttistellen haben.  Leider gibt es ja ein paar ‘Artisten’ in unserer Zunft, die nur mit Lautstärke und Tempo viel ‘Staub aufwirbeln’! Aber zwischen piano und forte gibt es unendliche Klangmöglichkeiten. Selbst eine Mischung wie 8’4’2’ mit oder ohne Mixtur, dazu im Pedal ein 16’ und die Koppel, könnte etwas Schönes sein, wenn sie nicht so oft gedankenlos genutzt - und damit missbraucht würde.

Gute Orgelbauer denken gerne in Registerfamilien (Prinzipale, Flöten, Streicher, Zungen etc.), gute Interpreten sollten auch in raffinierten Mischungen denken. Jedes halbwegs brauchbare Register ist u.U. auch solofähig. Wie schön klingt ein kleines Positiv, wenn man Musik findet, die nur der 2’ spielt (Händel - ‘tunes for Clay’s musical clock’), oder wenn man zu den drei Registern noch einen 16’ zaubert, indem man mit 8’ und 4’ eine Oktave tiefer spielt (bei der Einleitung mancher englischen Voluntary ist das arrangierbar).

Die Dimensionen eines Raumes gehen immer einher mit akustischen Besonderheiten. Auch bei viel Nachhall kann man noch vergleichsweise klar interpretieren, wenn das Programm und die Registrierung angemessen sind. Wir spielen immer für die Zuhörer im Raum, die manchmal weit entfernt vom Instrument sitzen. Artikulation, Klang und Tempo sind an jedem Ort neu und anders (!) zu wählen. Wie schön, wenn man dem Nachhall eines Klanges in spannungsvollen Pausen noch zuhören zu kann.

Auf jeden Fall wird man selten alles ‘korrekt’ nach gängiger Lehrmeinung spielen können!!

Das Einregistrieren eines einstündigen Konzertprogramms dauert bei mir oft viermal so lange! Auch für die Klangauswahl gilt: wer suchet, der wird finden. Alfred Brendel sagte einmal ‘es gibt keine schlechten Klaviere, nur schlechte Pianisten’. Vielleicht könnten wir also auch unseren schlechten Orgeln doch hin und wieder etwas Gutes entlocken.

Erläuterungen zum Programm werden dankbar aufgenommen. Wenn wir über Musikstücke sprechen, muss das, was wir erklären, hinterher aber auch hörbar sein. Musiktheorie hilft wenig - oder gar nicht. ‘Versteckte’ Choralzitate oder b-a-c-h Motive, die keiner erkennt, sind eher frustrierend für willige Zuhörer. Und da viele Musik nicht nur schwer zu spielen, sondern auch sehr schwer zu hören ist - besonders, wenn man sie nicht kennt - empfiehlt sich immer, mit der Erklärung eine kleine spannende Höraufgabe zu verbinden, einen Leitfaden zu geben, den man sich merken und dann hörend wiedererkennen kann.

Repertoire sollte man kennen und auch haben, um Kozertprogramme zu komponieren. Wie findet man sonst die Stücke, die hinterher gut zusammen passen sollen? Ich lese alle Programmhefte, die ich sehe, ich durchstöbere Kataloge von Musikverlagen, ich gehe in Konzerte, suche in Büchereien und online. Niemand kann das ständig tun, aber hin und wieder ist es sehr inspirierend. Das ‘offene Auge’ macht es aus. Eine Fundgrube sind Beckmanns ‘Repertorium Orgelmusik’ und noch besser - weil nicht nach Ländern und Lebensdaten, sondern alphabetisch geordnet - John Henderson ‘a directory of composers for the organ’. Wie ernst wir selbst unsere Konzerte nehmen, beginnt bei der Komposition des Programms.

Man nehme also
- die entsprechende Zeit im Kirchenjahr - oder ein Komponisten-Jubiläum
- so viele Möglichkeiten des Instrumentes wie möglich
- bedenke die Gegebenheiten von Raum und Akustik
- sortiere nach Abwechslung, Gegenüberstellung, Ordnungsprinzip
- würze mit etwas persönlichen Vorlieben
- akzentuiere mit passenden Tonartenfolgen
- binde alles zusammen durch übergeordnete Gedanken, ein Thema,- prüfe recht, werbe gut, übe lange mit Geduld

S.D.G.

Nachwort
Alle Fehler der Programm-Komposition, die ‘Sünden’, die ich beschrieb, habe ich selbst oft genug begangen. Machen Sie es besser!

Johannes Geffert wuchs in den Traditionen des Kirchenmusikerberufes auf. Nach Kantorenämtern in Aachen und Bonn leitete er von 1997 bis 2015 die Abteilung evang. Kirchenmusik an der ‘Hochschule für Musik und Tanz’ in Köln. Große internationale Konzerttätigkeit ließ ihn viele Programme erfinden und erproben.